Ein Toter hing am Ponzelar

von Helene Henke

 

Lily von der Layen hatte ihr eigenes Schlafzimmer, weil sie sich nicht mehr daran erinnerte, dass sie Falks Ehefrau war. Wie jeden Morgen lenkte er seinen Rollstuhl hinüber in das gegenüberliegende Zimmer der Seniorenresidenz Wintersglück und harrte an der Schwelle eine Weile aus. Sie saß still da und blickte aus dem Fenster auf den parkähnlichen Innenhof, aus deren Mitte eine dominante Tanne ihren säulenförmigen Stamm bis zur Dachrinne hinaufstreckte. Im Hintergrund erklangen aus dem Radio die hellen Stimmen eines Kinderchors.

 

Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht.

Nur das traute hoch heilige Paar …

 

Ein einfallender Sonnenstrahl ließ die feinen Härchen an Lilys Nacken schimmern wie Silberstaub. Zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger massierte sie sachte ihr Ohrläppchen. Vielleicht sahen ihre Ohrläppchen gerade deshalb aus wie die einer jungen Frau. Die Perlenstecker hatte Falk ihr vor über dreißig Jahren zur Silberhochzeit geschenkt. Seither hatte sie sie nie abgelegt, sodass sie nicht verlorengingen wie all die Geschenke in den Jahren darauf. Ihre Krankheit war  schleichend gekommen und folgte keiner bestimmbaren Regel. An die meisten Dinge erinnerte sie sich nicht, an manche schon. So wie das Lächeln, wenn sie ihn sah, und das den jugendlichen Zauber in ihren Augen widerspiegelte und ihn daran erinnerte, dass sie trotz ihrer 75 Jahre für ihn seine süße Lily blieb.

 

Nie hatte das Gefühl nachgelassen, sie beschützen zu wollen, nachdem er sie in den Nachkriegswirren vor dem Krefelder Von-derLeyen-Platz gefunden hatte. Ein verängstigtes, abgemagertes Mädchen deren Gesicht nur aus Augen zu bestehen schien. Er hatte sich ihrer angenommen, ohne je zu erfahren, was ihr widerfahren war. Sie heirateten 1957, da war Lily gerade mal Neunzehn und er Mitte Dreißig. Seine Freunde klopften ihm gönnerhaft auf die Schulter, angesichts des beträchtlichen Altersunterschieds. Doch hinter seinem Rücken wurde gespöttelt über das kleine Flüchtlingsmädchen und dem alternden Krüppel mit dem Gehstock, der sich notgedrungen als Diplomat verdingte. Sie sei nur auf sein Geld aus und würde ihn ohnehin um Jahrzehnte überleben. Falk war das egal. Für ihn war Lily keine Trophäe und sein Vermögen hätte er ihr ohne zu zögern übertragen. Es bedeutete ihm nichts und allen Unkenrufen zum Trotz, blieb seine junge Frau an seiner Seite.

 

 

Eigentlich wollte er nach dem Krieg die Seidenmanufaktur  seines Vaters übernehmen und in Ruhe seinem Gewerbe nachgehen. Es sollte doch genügen, seine Jugend für den Krieg hergegeben zu haben. Doch für den 23jährigen Russland-Rückkehrer hatte die Gelegenheit einer Anstellung als Diplomat für die alliierten Besatzer ergeben. Eine Entscheidung, die sich letztlich als richtig erwiesen hatte und sicher mit seiner Abstammung aus einer bekannten Krefelder Seidenweberfamilie zusammenhing. Die Samt- und Seidenstadt entsprach schon bald nur noch auf historischen Dokumenten ihrem blumigen Namen. Die Industrialisierung hatte auch in Krefeld Einzug gehalten, immer mehr Webstühle standen still. Der Wandel der Zeit hatte seinen Lauf genommen. Nur noch ein Denkmal und ein paar historische Bücher zeugten vom einstigen Glanz einer weit zurückliegenden Tradition.  

 

Falk seufzte tief und rieb sich den schmerzenden Oberschenkel, in dem die Narben einer Kriegsverletzung tobten. Belasten konnte er das verletzte Bein nie wieder, dafür musste das Gesunde doppelte Arbeit leisten. Lily fand ihn immer ausgesprochen stattlich, wenn er mit seinem verzierten Gehstock daherkam. Irgendwann hatte er es ihr geglaubt und sein Schicksal angenommen. Doch das überbeanspruchte Bein versagte im Laufe der Jahre seinen Dienst und fesselt ihn an den Rollstuhl. Es gab Momente in denen er Lily um ihren vitalen Körper beneidete, über den sie sich eben so wenig Gedanken machte wie um den Rest in ihrem Leben. Sie war glücklich, weil sie es nicht anders wusste. Ihm hingegen kroch das Alter durch die Gelenke und nagte an seinen Knochen wie eine gierige Ratte. Sein Verstand funktionierte präzise wie ein Uhrwerk und verbildlichte auf nicht immer leicht erträgliche Weise jedes nur erdenkliche Zukunftsszenarium. Ja, manchmal wäre ihm lieber, der Verfall hätte in seinem Kopf angefangen.

 

Lily drehte sich herum und erstrahlte bei seinem Anblick.

 

„Guten Morgen, Herr …?“ „Ich bin es, Falk. Guten Morgen, meine Liebe.“ Falk betätigte die Räder seines Rollstuhls und hielt neben ihr am Fenster. Lily blinzelte. „Sie sind ein Freund, nicht wahr?“ Er lächelte. Bis zum Mittag würde sie ihn siezen, danach kehrte regelmäßig eine Erinnerung dessen zurück, was eine über fünfzig Jahre anhaltende Ehe ausmachte. „Ich bin ein Freund.“ Er legte seine Hand auf die ihre. Sie ließ ihn gewähren. Ihr Körper hatte andere Erinnerungen gespeichert als ihr Geist. „Schauen Sie, Falk. Sein Ärmchen ist abgebrochen.“ Lily hielt ihm eine filigrane Engelsfigur hin. Dabei bedachte sie ihn mit dem Blick eines Kindes, dessen Lieblingsspielzeug zerbrochen war, es aber dennoch keinen Grund zum Weinen gab, weil Papa es reparieren würde.

 

Erst jetzt fiel sein Blick auf die hölzerne Truhe, aus der zwischen hervorquellender Packwatte rotgoldener Christbaumschmuck hervorlugte. Weihnachten bedeutete für Falk allenfalls eine angemessene Zeit zum Sterben. Der festliche Rahmen stimmte einfach, um zu Grabe getragen zu werden. Für Lily war es eines der wenigen Ereignisse, die niemals aus ihrem Gedächtnis zu verschwinden schienen. Es war ihr Fest, welches sie stets mit äußerster Hingabe zelebrierte. Früher hatte er ihr zu Liebe die  gemeinsame Villa im Forstwald mit Lichterketten und Tannengirlanden verziert. Der Christbaum in der Halle durfte unter keinen Umständen kleiner als drei Meter sein, damit er bis zur oberen Etage hinaufragte. Der Heilige Abend wurde regelmäßig mit Freunden und Verwandten im aufwendigen Rahmen gefeiert. Lily liebte das Weihnachtsfest. Irgendwann schien sie nur noch für diese Zeit zu leben, in der sich sogar der Schleier des Vergessens von ihr abzuheben schien.

 

Gleichermaßen überfiel sie eine tiefe Lethargie, wenn sich im Januar karge Eintönigkeit über den Vorgarten legte und aus dem Haus die Lichtersterne verschwunden waren. Woraufhin Lily immer öfter im Haus verschwand, weil sie sich in dem weitläufigen Anwesen verlief. Nachdem Falk sie eines Tages, nach stundenlanger Suche, völlig aufgelöst neben einem Treppenabsatz im Seitenflügel aufgefunden hatte, fasste er den Entschluss die Villa zu verkaufen und zusammen mit seiner Frau in die Seniorenresidenz am Krefelder Hauptbahnhof zu ziehen. Mit zweiundneunzig Jahren musste er einsehen, dass er nicht mehr in der körperlichen Verfassung war, Lily vor allen Gefahren zu schützen. Sie geriet außer sich, als er ihr gegenüber sein Vorhaben andeutete, erklärte sich aber zu einem Besichtigungstermin bereit.

 

 

 

Falk blickte aus dem Fenster hinauf zur konischen Krone der Tanne, die mit ihren regelmäßigen Etagen von horizontalen Ästen einen Großteil des Innenparks ausfüllte. Während der Baum im Sommer kühlende Schatten spendete, erfreuten sich die Bewohner auch in der kargen Jahreszeit seiner immergrünen Erscheinung. Zu Weihnachten ließ die Heimleitung den Baum aufwendig schmücken, wobei eine beleuchtete Sternschnuppe unmittelbar vor Lilys Fenster angebracht wurde. Dort harrte sie oft stundenlang mit seliger Miene aus, um sich am Lichterglanz zu erquicken. Falk konnte sich wiederholt nicht des Eindrucks verwehren, es diesem Baum zu verdanken, dass seine Frau überhaupt mit ihm in die Seniorenresidenz eingezogen war.  

 

Behutsam nahm er ihr die Keramikfigur aus der Hand und betrachtete die beschädigte Stelle unter dem winzigen, roten Umhang. „Das lässt sich mit einem Tropfen Sekundenkleber richten.“ Sie lächelte und er hätte ihr gerne einen Kuss auf die Wange gehaucht. Doch das hätte sie zu dieser frühen Stunde verwirrt. Stattdessen sah er Lily dabei zu, wie sie mit einem feinen Pinsel ihre Weihnachtsfiguren von imaginärem Staub befreite. Ihr Profil hielt ihn gefangen wie ein Gemälde. Das Klopfen an der Tür nahm er erst wahr, als Henriette mit einem vernehmlichen Räuspern auf sich aufmerksam machte. „Kommen Sie beide gleich in den Saal zum Adventskaffee?“, fragte die pausbäckige Frau. Lily stand von ihrem Stuhl auf und wandte sich um. „Sagen Sie, warum ist der Christbaum noch nicht geschmückt?“

 

Es war keine Frage, sondern eine Aufforderung wie jene, mit denen Lily in der Vergangenheit ihre Hausangestellten mit Nachdruck an deren Aufgaben erinnert hatte. Sie hielt die Mitbewohner der Residenz für Dienstpersonal und machte dabei nicht mal Halt vor Herrn Brücker, dem Heimleiter.

 

Falk war einer der Investoren von Wintersglück und schmunzelte regelmäßig, wenn Brücker mit Lily einen Disput über weitere Haushaltskürzungen austrug, bei dem ihr sanft-herrischer Tonfall keinen Zweifel daran zuließ, dass sie ihn für ihren Butler hielt. Der Anstand versagte es Brücker sich gegen Lily zu behaupten. Die geplanten Kürzungen setzte er dennoch durch, was zu einem kaum noch vertretbaren Personalmangel in der Residenz geführt hatte. Henriette gab sich nicht weniger verblüfft und blickte fragend zu Falk hinüber. „Der Baum wird sicher rechtzeitig zum Fest in gewohnter Pracht erstrahlen“, beruhigte Falk seine Frau und wandte sich zu Henriette. „Selbstverständlich werden wir gleich zu Ihnen stoßen.“

 

Nachdem Lily sich zurechtgemacht hatte, holte Falk sie in ihrem Zimmer ab. „Du solltest den Rollstuhl hierlassen und deinen Gehstock benutzen. Der Weg ist nicht allzu weit“, schlug sie ihm vor. Sie erinnerte sich daran, dass Falk an schmerzfreien Tagen durchaus ein paar Schritte gehen konnte. Doch diese sporadischen Momente kamen wann sie wollten und entzogen sich gänzlich Falks Einfluss.   „Heute fühle ich mich unpässlich. Tut mir leid, meine Liebe.“ „Kein Grund sich zu entschuldigen“, erwiderte Lily und küsste ihm auf die Stirn. „Du hast ja mich.“

 

Sie schob ihn zum Aufzug, der sich in den Gemeinschaftsraum im unteren Geschoss bringen würde. Während sie warteten vernahm Falk entfernte Motorengeräusche, dessen Richtung er nicht bestimmen konnte. Eine seltsame Zeit für Straßenarbeiten, so kurz vor Weihnachten.

 

 

 

Im Aufenthaltsraum war Lily schnell umgeben von Mitbewohnern, die sich um sie scharten und eifrig ihre mitgebrachten Christbaumkugeln präsentierten. Es war zur Tradition geworden, die hohe Tanne im Innenhof zusätzlich mit Erinnerungen aus der Vergangenheit aufzuwerten. Die freudige Erwartung auf ein besinnliches Fest, schien wie ein Funke auf die alten Menschen überzuspringen. Die Körbe an den Gehwagen waren ebenso gefüllt mit weihnachtlichem Dekor wie die Schöße derer, die im Rollstuhl saßen. Lily schwebte mit geröteten Wangen durch den Raum wie eine Gräfin inmitten ihres Hofstaats und hatte für jeden ein paar freundliche Worte auf den Lippen. Eine Szene wie aus der Zeit gefallen.  

 

Falk zog sich auf die imposante Außenterrasse zurück, um eine Zigarre zu rauchen. Die Strahlen der winterlichen Sonne reflektierten zu seiner rechten in den staubblinden Fenstern des Hauptbahnhofs. Der Vorplatz war nur noch ein Überbleibsel dessen, worauf früher militärische Paraden im großen Aufwand abgehalten worden waren. Nun kreuzten fünf Straßenbahnlinien ihre Wege, zwischen denen sich ein unentwegter Strom Autos hindurchschlängelte. Es herrschte reges Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz. Vor den gegenüberliegenden Glasfassaden des Multiplexkinos, hatte sich eine Menschentraube gebildet und harrte unter pinker Neonbeleuchtung aus, um den neusten Hollywoodstreifen anzusehen. Als Falk das letzte Mal im Kino gewesen war, befand sich dieses in einem gediegenen Altbau auf dem Ostwall. Zurückhaltende Eleganz schien nicht mehr gefragt zu sein, dachte er mit Blick auf den modernen Klotz. In Augenblicken wie diesen, kam es ihm vor, als läge nur ein Wimpernschlag zwischen damals und heute. 

 

Hinter ihm öffnete sich die Terrassentür. Kurz darauf trat Herr Brücker neben ihn. „Ihre Frau hält offensichtlich wieder eines ihrer geselligen Adventstreffen ab.“ „Sparen Sie sich Ihre Höflichkeitsfloskeln“, brummte Falk. Wenn Brücker ihn ansprach, bedeutete es selten etwas Gutes. Dieser ließ auch sogleich die Fassade fallen. „Wie Sie wünschen, Herr von der Layen. Es gibt eine Veränderung über die ich mit Ihnen sprechen möchte.“ „Habe ich einen Einfluss darauf?“ Brücker schwieg. „Dachte ich mir. Also, worum geht es?“ „Die Heimleitung sieht sich gezwungen, einen Beitrag zur allgemeinen Energiesparmaßnahme zu leisten“, erörterte Brücker steif.

 

„Wollen Sie uns den Strom abschalten wie es der Bürgermeister neuerdings mit der Straßenbeleuchtung handhabt?“ „Wir sind alle dazu angehalten, zum Wohle unserer Umwelt einen Schritt zurückzutreten, finden Sie nicht?“

 

Der Mittvierziger war nur halb so alt wie Falk und nichts weiter als ein profitgieriger Schnösel. Ihn interessierten weder die Umwelt noch das Allgemeinwohl. Menschen wie er kamen und gingen. Doch solange sie da waren, neigten sie dazu eine Menge Porzellan zu zerschlagen. Falk spürte wie sein Herzschlag sich vor Aufregung beschleunigte, als sich der schmächtige Kerl vor ihm aufbaute und es offensichtlich genoss, auf ihn herabzusehen.  

 

„Was ich meine, wollen Sie wissen? Die meisten dieser Bewohner haben in ihrem Leben genug Entbehrungen erlebt und haben es nicht verdient, Milchreis zu essen, der mit Wasser zubereitet wurde. Die meisten von ihnen, haben dieses Land wieder aufgebaut, als es in Schutt und Asche gelegen hat.“ „Ach, hören Sie bloß mit diesen Phrasen auf“, mokierte sich Brücker. „Es kann ja nicht so ein Drama sein, wenn dieses Ungestüm von Tanne wegkommt. Sie überwuchert den kompletten Innenhof und wurzelt so tief, dass sie den Bau einer Tiefgarage behindert.“

 

Falk starrte den Heimleiter verblüfft an. Eine neue Einnahmequelle schwebte ihm also vor, was Falk in Anbetracht der beinahe legendären Skrupellosigkeit des Heimleiters nicht überraschte. Zuletzt hatte eine seiner Effizienzanordnungen die Strangulation einer Heimbewohnerin zur Folge gehabt, nachdem diese, ohne richterliche Verfügung, an ihren Rollstuhl fixiert von der überforderten Nachtschwester schlicht vergessen worden war. Mit einer Reihe Staranwälten war es Brücker gelungen sich aus der Verantwortung zu ziehen und den Vorfall als Unfall abzutun. Und nun sollten die Bewohner des Heims auf ihren Tannenbaum verzichten … sollte Lily der einzige Anker zur Realität genommen werden.

 

Die Motorengeräusche fielen ihm wieder ein. „Sie meinen, Sie sind schon dabei den Baum zu fällen? Konnten Sie nicht wenigstens bis nach dem Fest warten?“ Brücker zuckte mit den Schultern. „Ist am billigsten zu dieser Jahreszeit. Es geht um Ihre Frau. Wie wir wissen, reagiert sie sensibel auf das Thema Weihnachten. Vielleicht sollten Sie ihr behutsam beibringen, dass es keinen pompös geschmückten Weihnachtsbaum mehr vor ihrem Fenster geben wird.“

 

Brückers selbstgefällige Miene stand im Widerspruch zu seinen angeblich verständnisvollen Worten. Er sollte Lily behutsam vor vollendete Tatsachen stellen? Das war in etwa so, als würde man zum Feuerlöscher greifen, nachdem das Haus abgebrannt war. Falk sog hörbar den Atem durch die Nase. Dieses stets in ihm brodelnde, unerträgliche Gefühl vom Ausgeliefertsein, welches er bislang erfolgreich mit Gleichmut zu verdrängen wusste, bahnte sich plötzlich seinen Weg an die Oberfläche und löste in ihm einen derartigen Ansturm von Wut aus wie er es seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Von dem er nicht mal wusste, dass er dazu überhaupt noch in der Lage war. Seine Hände krampften sich um die Lehnen des Rollstuhls, seine Füße bewegten sich ohne sein Zutun von den Trittbrettern auf den Boden. „Sie sind ein verdammter Bastard, Brücker“, stieß Falk hervor. Brücker trat mit irritierter Miene einen Schritt zurück. „Jetzt mäßigen Sie sich bitte. So können Sie nicht mit mir reden.“

 

Woher er die Kraft nahm, wusste Falk nicht. Sein Körper reagierte nach eigenen Regeln. Er stand auf und baute sich wie eine Wand vor Brücker auf. „Ich bin über 90 Jahre alt und kann sagen, was ich will. Und wissen Sie was? Ich kann sogar tun, was ich will. Oder was glauben Sie, hätte ich zu befürchten?“ Der Heimleiter zuckte zusammen, fing sich aber sofort wieder. „Überschätzen Sie sich nicht, von der Layen. Wir werden sehen, wie es mit ihren Drohungen aussieht, wenn ich erst dafür gesorgt habe, dass Sie entmündigt worden sind. Nach dieser Aktion hier, dürfte das ein Leichtes für mich sein.“ Falk wollte gerade auf Brücker losgehen, als ein Schrei ihn ablenkte. Lily stand in der Tür. Ihre Brust hob und senkte sich im schnell aufeinander folgenden Takt. Ihre Augen vor Entsetzen geweitet. Falk sank in den Rollstuhl zurück als sei der Bann gebrochen, der ihn dazu befähigt hatte aufzustehen. Lily schrie erneut auf. Sie fuhr herum und hastete durch den Wartesaal Richtung Flur. Die Anwesenden wichen erschrocken zurück, schlugen sich die Hände vor die Münder oder stimmten in Lilys sich zwar entfernenden, aber immer noch deutlich vernehmbaren Schreie ein.

 

 

 

Lily von der Layen hatte vergessen, dass sie lebte. Sie schrie und schrie, drei Tage hindurch. Bis Falk zustimmte, sie mit einem starken Psychopharmakon sedieren zu lassen. Doch wenn sie aus dem tumben Schlaf erwachte, blickte sie zum Fenster auf den nun leeren Platz und schrie weiter. Falk redete unentwegt mit ruhiger Stimme auf sie ein, streichelte über ihr wirr vom Kopf abstehendes, graues Haar, bis ihn seine Kräfte verließen. Ihre kratzig-grelle Stimme hallte durch die Gänge, zog in die Zimmer der anderen Bewohner, zerrte an den Nerven der Pfleger, vertrieb die Besucher und riss Wunden in Falks Verstand. Er fing damit an, Lilys Weihnachtsengel in die Holzkiste zu packen, nur um sich zu beschäftigen. Als er das goldene Drahtgeflecht in Form einer Sternschnuppe anhob, senkte sich hinter ihm plötzlich Lilys Stimme zu einem Wimmern. Die Ruhe glitt wie Balsam über sein Gemüt. Er steckte den Stecker ein. Die angebrachten Lämpchen leuchteten auf und ließen Lilys Augen erstrahlen wie Sterne in einer verregneten Nacht. Dabei schluchzte sie leise und herzzerreißend.

 

„Wohin gehen wir?“, fragte Lily und unterdrückte sichtbar mühevoll einen weiteren Tränenstrom. Die Schreie hatten aufgehört, nachdem Falk ihr die goldene Sternschnuppe präsentiert hatte. Das Weinen jedoch nicht.

 

„Ich zeige dir Weihnachten“, entgegnete Falk. Henriette schob Falks Rollstuhl, damit er Lilys Hand halten konnte. Sie lief neben ihm her mit durchgestrecktem Rücken und erhobenen Hauptes. Hinter ihnen stapfte die Belegschaft der Seniorenresidenz Wintersglück in einem ehrwürdigen Konvoi über den schneebedeckten Grünstreifen des Ostwalls. Auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten blieben die Menschen stehen und starrten der hoheitsvoll anmutenden Prozession hinterher. Deren verbissene Mienen und ihr einheitlicher Gleichschritt, schien einige von ihnen dazu zu veranlassen, sich anzuschließen.

 

Das lebensgroße Bronzestandbild des Meisters Ponzelar, thronte seit 1947 im Herzen der Stadt auf dem Südwall Ecke Ostwall und genoss dennoch wenig Aufmerksamkeit im hastig vorbeieilendem Leben. Außer an diesem Tag. Eine beträchtliche Menschenmenge hatte sich um das Weberdenkmal geschart und bestaunte den  volkstümlichen Handwerker am Liefertag seiner Ware. Die porträtgenauen Gesichtszüge waren die von Falks Vater nachempfunden, gekleidet im Gehrock aus schwarzem Tuch - Weberbaas im Laakesrock mit Jraduutkapp, der schwarzen Mütze mit einem flachen, weit vorstehenden Schirm. Die Statue schulterte einen Kettbaum, der hinteren schweren Rolle am Webstuhl, die auf den ersten Blick durchaus für ein Gewehr gehalten werden könnte. Eingefangen im Moment des Schreitens mit wehendem Rock, versinnbildlichte der Ponzelar kraftvolles Voranstreben. Auf dem Bild unter seinen Füßen, im Sockel eingelassen, sah man für gewöhnlich ein typisches Weberhaus, wenn es nicht gerade verdeckt war.

 

Falk kümmerte weder das Hupen der Autos, noch das wilde Klingeln der Straßenbahnen, die zum Stillstand gezwungen waren, weil sich immer mehr Menschen versammelten. Er zog Lily durch das Gewühl hindurch bis sie unmittelbar vor der Bronzestatue standen. Falk blickte in Lily Gesicht. Es erstrahlte im Schein der beleuchteten Sternschnuppe. Ihr Lächeln war das pure Glück. Die Welt um sie herum versank in rotgoldenen Nebeln. Zwischen den bronzenen Füßen der Statue hing Herr Brückers verrenkter Körper, um den kunstvoll eine Lichterkette drapiert worden war. Seine gespreizten Beine formten den ausladenden Schweif des Kometen. Die Sternenform bildeten Oberkörper und Arme, wobei einer davon der Belastung offenbar nicht standgehalten hatte und nun ziellos baumelnd aus dem Rahmen fiel. Ein Teil des leuchtenden Drahtgeflechts war eng um Brückers Stirn geschlungen wie eine Dornenkrone. Blut lief über das Antlitz des Gemarterten und hatte den Schnee am Fuße des Ponzelars zu einer roten Lache geschmolzen.  Aus der Ferne ertönte ein Martinshorn. Neben Falk sank eine Frau zum Gebet in die Knie. In den Gesichtern der Umstehenden vernahm er eine Mischung aus Entsetzen und schaulustiger Erregung. In Lilys Miene spiegelte sich Seligkeit. Mit Daumen und Zeigefinger massierte sie sachte ihr Ohrläppchen.

 

„Sieh nur, sein Ärmchen ist abgebrochen.“ Sie sprach leise, ohne Falk anzusehen.

„Gesegnete Weihnachten, meine Liebe“, erwiderte Falk.

Er griff nach ihrer Hand und schloss die Augen.

Die Sirenen der Streifenwagen kamen näher.

 

Ende  

 

 

 

 

Hier, auf dem Südwall, an der Einmündung zur Lindenstrasse war der erste Standort vom "Seidenweber" - in Bronze gegossen 1911 von Johannes Stiegmann. "Ponzelar" stellt einen typischen Seidenweber aus den Jahren um 1900 dar.  Warum diese Statue einige Jahre später zur Kreuzung Südwall/Breitestrasse umziehen musste, konnte ich noch nicht ermitteln. Das Denkmal wurde 1940 eingeschmolzen. Nach dem Krieg wurde eine Kopie wieder auf den massiven Sockel gestellt und von da an steht der "Meister Ponzelar" auf dem Mittelstreifen auf dem Südwall und schaut gebannt auf das Treiben am Ostwall.

 

 

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Aktualisiert im Februar 2023 | crefelder-geschichte[aet]t-online.de